Tag 8 (19.1.2012)
Arme hoch! Reiche runter!
Die Nebelschwaden zogen über das Eck, Schwefelgeruch stand
über der Szenerie, es sah aus wie Krieg, es roch nach Krieg, und für
jemanden, der schon einmal im Krieg gewesen war, musste das hier
eine Anmassung sein.
Unsere vier Freunde standen am Eck und schwiegen. Knallkörper
flirrten um sie herum, aber das war nebensächlich, hatte Steffi doch
gerade Maik in einer Art in seine Schranken gewiesen, die nun
wirklich keiner von ihr erwartet hätte.
Dieser Maik stand nun dort und war bis zum Nasenansatz im
Erdboden versunken, ganz so wie er es sich gewünscht hatte – so
tief versunken, dass er nur noch unverständlich sprechen konnte.
„….Tschuldigung, …Tschuldigung…, tut mir leid!“, flüsterte Maik, und in
diesem Moment wurde ihm irgendwas klar.
Was, das wusste er nicht genau, aber es ging „Pling!“ in seinem
Kopf – das war so ein Geräusch, das kannte er noch vom letzten
Jahr, als er auf der Hochzeit seiner Halbschwester gewesen war.
Da war sein schon sehr betrunkener Vater aufgestanden und alle
Köpfe hatten sich umgedreht. Aber so viele Köpfe waren es nicht, weil
seine Schwester ungefähr so beliebt war wie Maik selber.
Die paar blondierten und dauergewellten Strähnchenköpfe drehten
sich zu Maiks Vater um, als er – „Pling!“ – mit dem Messer an sein Glas
gestoßen hatte, um einen Toast auszubringen.
Sein „Daddy“ war aufgestanden und hatte gesagt: „Die Ehe, die Ehe
ist wie so ein Schiff, das langsam untergeht – am Ende stirbt man.
Und wenn’s gut läuft, dann hat man vorher noch einen guten Song
aufgelegt!“
Tatsächlich wusste Justus, der neben Maik stand, nicht, dass er
genauso dachte wie Maiks Vater.
Es war wirklich unglaublich wichtig, dass, wenn man starb, gute
Musik zur Hand war!
Das ging soweit, dass Justus, wenn er Auto fuhr, es sich niemals
erlaubte, schlechtes Chartsradio oder überhaupt schlechte Musik zu
hören. Man stelle sich nur vor, irgendein Reh oder ein Prominenter
würden auf die Autobahn laufen: Justus würde das Lenkrad
herumreissen und in die nächste Leitplanke donnern, sich im
Funkenregen überschlagen, in eine Eiche rauschen und wäre vom
Hals abwärts gelähmt. Dann würde er blutend auf dem Fahrersitz
sitzen und plötzlich käme „Das Beste aus den Neunzigern“, oder „Whigfield“
oder „aha“ würden aus den Boxen plärren und Justus hätte keine
Chance, das Autoradio aus- oder umzuschalten!
All die Vorbereitung auf einen coolen Tod, mit der sich so ein
Boheme aus der Großstadt ja die meiste Zeit des Tages beschäftigt,
wäre dahin – alles verschwendet!
Ein verschwendetes leben, wenn man Leben als Anlauf zu einem
tollen Tod sähe.
Noch schlimmer als ein verschwendetes Leben wäre ja ein
unwürdiger Tod, doch vielleicht würde es in diesem Auto dann ja
soweit kommen!
Erst würden die Notärzte kommen und vielleicht – wie schrecklich! –
würde „My Way“ von Frank Sinatra laufen. Vielleicht sogar „My Way“ in
einer dieser Technoversionen, zu denen der ganze Ostblock lebt!
Und dann käme jemand auf den Gedanken, dass das doch eine
tolle Idee für ein Lied auf Justus‘ Beerdigung wäre, weil er doch etwas
ganz Besonderes gewesen war.
„My way“ von Sinatra würde gespielt werden – was für eine Schande!
Das schlimmste Totenlied der Welt! Und dazu kam noch die
verlorene Wette, die ihm vorschrieb, dass bei seiner Beerdigung ja
auch noch „Imagine“ von John Lennon laufen würde. Mein Gott – wie
unfassbar peinlich das werden würde: „My Way“ für jemanden, der
wirklich etwas Besonderes war und „Imagine“ für jemanden, der die
Menschen und die Welt eigentlich wirklich mochte!
Justus würde von den Toten auferstehen müssen, um sich selbst zur
Bestrafung noch einmal zu erschiessen!
Auf die Idee, dass „My Way“ das vielleicht schlimmste Lied der Welt
wäre, weil es nur Leuten gefiel, die von einem eigenen Lebensweg
soviel Ahnung hatten wie der weisse Mann vom Tanzen – auf diese
Idee wäre Maiks Vater nie gekommen.
Der Vater von Maik – er war ein kluger Mann, einer dieser klugen
Männer, die nur klug sein können, weil sie Klugsein nie verstanden haben.
„Tschuldigung!“, murmelte Maik noch einmal in Richtung Steffi, die ihm
gegenüber vor dem „Coffee Corner“ stand, von links nach rechts
wippte, sich in die kalten Hände blies und ihn von oben bis unten
musterte und dann sagte:
„Ja ja, ist ja gut, so böse wollte ich nicht sein! Ich werde nur
manchmal böse, weil ich diese Art nicht verstehe, und ich werde
besonders wütend, weil ich die Art nicht verstehe, aber darauf
hineinfalle. Glaub‘ ma nich, dass es angenehm wäre, wenn man nicht
mehr aufhören kann, an jemanden zu denken, nur weil er Dich
schlecht behandelt hat. Wären es Hassfantasien, das wäre ja in
Ordnung und normal gegen jemanden, der mir was Schlechtes will.
Wenn ich Leute kennenlerne – das ist ja total verwirrend!
Wenn ich alleine zuhause sitze, dann – kein Quatsch! – träum‘ ich von dem
gefühlvollen Typen, der zuhört, nett ist und Dinge tut, weil es ihn freut,
dass es mir gut geht. Da hab‘ ich dann diese Prinzessinenfantasien
mit Hochzeit und mit ‚für immer‘ und so weiter.
Aber im echten Leben, da stehen diese unterschiedlichen Menschen
in meinem Kopf dicht nebeneinander.
Man kann sich das so vorstellen:
Da steht ein Junge, nett anzusehen, nicht Hochglanz, einfach einer
der ehrlich ist, der keinen Scheiß erzählt, der einfach okay ist. Er steht
da, guckt auf den Boden, ist vielleicht sogar schüchtern, weil er
schon gemerkt hat, dass er mich mag und ich ihn angeschaut habe,
und mir geht das Herz auf, so als würde ich einen kleinen Pandabären
oder ein süsses Kätzchen sehen. Ich will sofort hingehen und
machen, dass es ihm gut geht und dass er keine Sorgen mehr hat,
und mit ihm alt werden. Und alles ist toll für immer. Keine Sorgen
mehr, keine Unsicherheit, einfach nur ein schönes Leben. So steht er
da und traut sich nicht, aber ich weiß, vielleicht denkt er sowas
ähnliches wie ich, und ein Glanz umgibt ihn, und es ist alles toll und
ich denk‘ mir: ‚Mit DEM gegen den Rest der Welt!‘
Und plötzlich kommt einer angerannt, der sich beim Fitness mit
seinen Idiotenfreunden dicke Muskeln an den Körper geschraubt hat,
moderne Hosen trägt – egal, wie unfassbar dumm die mittlerweile
aussehen! -, irgendein Hemd trägt, wo vorne möglichst viel mit
„American – Dog – Tribal – College – Westcoast – Harvard – New York College –
Coast Guard – Boom“ draufsteht, und die Haare so trägt, wie die Punker und
die Alternativen vor drei Jahren, als er sie noch bespuckt und auf der
Straße mit seinen Idioten verprügelt hat, einfach nur weil er es konnte.
So wie ein starker vegetarischer Affe eine Gazelle totschlagen kann, nicht
wegen Hunger, sondern nur, weil er Lust hat, Angst zu verbreiten.
So einer kommt also reingerannt, dahin, wo auch der gute Junge steht.
Mit dieser dämlichen Art zu laufen, so wie die immer laufen, die
Idioten, mit den Fußspitzen nach aussen, den Arsch so
zusammengekniffen, so als könnte sich ihre angestaute Dummheit
und Gemeinheit in einem Schlag als Durchfall entladen.
Und was passiert dann? Er bleibt genau vor dem eigentlich tollen
Jungen stehen. Haargenau verdeckt er ihn. Und was geschieht mit
mir? Ich kann nicht aufhören, den Vollidioten anzustarren, und ich
kann nicht damit aufhören, weil sein dummes Megaego alles
verdeckt. Ich würde gerne durch ihn hindurchsehen, aber nein –
kann ich nicht!
Und mit jedem dummen Witz, mit jedem peinlichen Abgeklatsche mit
einem seine Freunde steigt meine Lust. Ja, tatsächlich: Meine Lust.
Das ist doch absurd! Aber, frag‘ mal rum, ich bin da nicht alleine!
Es ist wohl so, dass ich, obwohl ich es besser weiß, immer und
immer wieder auf diese Idioten hereinfalle. Es tut mir leid, Maik, dass
ich Dich Idiot genannt habe! Es ist nicht fair, das Dich die Leute so
nennen, nur weil Du es nicht verstehst. Weil – Tatsache! -, ich versteh‘
es auch nicht. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, aber mit mir
redet auch keiner – eigentlich deshalb, weil die Frauen neidisch und die
Männer zu geil sind. Das ist nicht schön, aber kurze Zeit hilft es
vergessen, dass es größere Fragen als die Farbe meines Lipgloss
gibt, wenn ich mir einen Blasemund geschminkt habe.
Ich weiss, dass es Dich gibt und dass Du nur verdeckt bist von den
Vollidioten. Ich weiss, dass es Leute wie Dich gibt, Spinner. Das bist
Du, Maik: Du bist ein Spinner, aber ich glaube auch, das Du dazu
gemacht wurdest und dass das nicht soviel Deine Schuld ist, wie die
anderen Dir erzählen!
Und ich weiß, dass ich auf Arschlöcher stehe und oft sogar glaube,
dass ich sie ändern könnte. Das hat zwar noch nie jemand geschafft, aber
mir scheint das aus irgend einem Grund wichtig zu sein.
Aber, Maik, wenn Du dann zu mir kommst und mich beleidigst und
so sein willst wie die „Bad Boys“, die die Mädchen bekommen, dann
hörst du auf, nur ein Spinner zu sein und wirst zum Arschloch!
Und wenn Frauen wie ich auch noch das Vertrauen verlieren, dass
diese Aufreißer, Lügner, Ficker und Betrüger nur Männer verbergen,
die eigentlich gut für mich wären, dann geht alles kaputt!
Ich weiß, das ist eine schreckliche Position für Jungs wie Dich, die
wir in eine Freundschaft zwingen. Und ich kann mich nur entschuldigen!
Immer wieder entschuldigen! Der Idiot – das bin ich!
Oder anders gesagt: Wir. Wir sind Idioten!
Denn dumm ist nicht der, der Dummes tut – dumm ist der, der
Dummes will, hab‘ ich mal in der „Young Miss“ gelesen!“
Die Runde schwieg – Emma saß auf dem Boden, Justus stand
daneben und schaute Maik an. Ihre Münder waren immer weiter
aufgeklappt bei der Beleidigung von Maik, und bei Steffis Antwort
wußten eigentlich beide nicht mehr, was sie sagen sollten. Justus
war das alles ein bißchen zu viel, und er wiederholte seinen
Vorschlag, noch Bier bei der „Flaschenpost“ „kaufen“ zu gehen.
Emma sprang auf.
„Ich komme mit!“, sagte sie hastig. „Ihr bleibt hier, wir sind gleich
wieder da!“ Sie packte Justus am Ärmel und zog ihn an der
Fensterscheibe des „Coffee Corner“ vorbei in dem Moment, als
irgendein Witzbold einen kleinen Böller zwischen ihre Füsse warf.
Justus bemerkte ihn und zog Emma ein Stück zur Seite. Beide schauten
auf die brennende Lunte, die ein Geräusch machte wie verbrennender
Speck in einer zu heißen Pfanne, und als sie sich umschauten,
sahen sie noch kurz Maik, der auch aussah wie verbrennender Speck
in einer zu heißen Bratpfanne. Das Geräusch der Lunte wurde leiser,
als sich das leuchtende Ende in den Böller hineinbrannte, und für einen
Moment stand in Erwartung der Explosion alles still. Gleich musste es
knallen, und wenn es knallt, da kann man noch so sehr wissen, dass es
gleich knallt – erschrecken tut man sich trotzdem!
Das ist wie beim Kitzeln. Wenn man weiß, dass einen ein anderer
gleich kitzeln wird, dann wird das Kitzeln noch viel stärker und eine
schreckliche kichernde Angst durchströmt einen und man muß
kichernd befehlen, das Kitzeln doch sein zu lassen. Aber wieviel
wirkt ein Befehl schon, wenn er kichernd ausgesprochen wird?
Sich selber kann man nicht kitzeln, weil das Hirn schon vorher
weiß, was geschehen wird, weil man sich auf sich selbst verlassen
kann. Aber wenn ein anderer kitzelt – bei anderen, da gibt es kein
Verlassen, kein Vertrauen – da gibt es Probleme, und man zuckt und
windet sich, es ist unangenehm und schlimm, aber, wenn das
Kitzeln zuende ist, dann ist man sich, trotz des Gefühles, gefoltert
worden zu sein, näher als zuvor, auch wenn man versucht, böse zu
sein. Wer lacht, der kann schlecht böse gucken!
Und so ähnlich war es auch bei dieser Lunte, die jetzt in den Böller
hineingebrannt war. Maik und Emma und Steffi und Justus glotzten
auf den Knallkörper und warteten und warteten und warteten, aber
nichts geschah. Da lag er, der Böller, und er wollte nicht, wollte nicht,
wollte nicht.
Nichts geschah, gar nichts geschah, und als klar war, dass dies eine
Fehlzündung werden würde, ohne den leisesten Knall, entspannten
sie sich langsam wieder, und die Aufregung, die Maik und Steffi mit
ihrem Geschrei und Gezanke ausgelöst hatten, war in der Erwartung
der Explosion dieses kleinen Chinaböllers wie in Luft aufgelöst worden.
Emma kehrte sich zur Seite und zog Justus mit sich. Die beiden
spazierten los und verschwanden schon gleich im dichten Rauch vor
dem kleinen Schnickschnackkettenundringeundpiercingladen
„Minka“, keine zehn Meter weiter. Emma blieb kurz stehen und
schaute ins Fenster, und erst als sie stehen blieb bemerkte Justus,
dass sie sich noch an den Händen hielten.
Emma war nicht die Frau für Schmuck, das würde sie von sich selbst
sagen, aber Glitzern und Knallen, das scheint in Frauen und in
Männern etwas Archaisches anzusprechen.
Die Hände der beiden glitten auseinander, und das war ein
schlechtes Gefühl, aber gleichzeitig fühlte es sich richtig an, was ja
seltsam ist, weil: „Eigentlich kann es das ja gar nicht geben: Etwas
das sich gut anfühlt, aber gleichzeitig schlecht ist!“, dachte sich
Emma. Und im gleichen Moment dachte sich Justus: „Etwas, das sich
schlecht anfühlt, das kann doch nicht gut sein!“
Die beiden sahen sich an, und da war ein bißchen Einheit
zwischen ihnen, diese Art von Einheit, die es früher zwischen ihnen
schon einmal gegeben hatte – in genau so einem Moment.
Es hatte diesen Abend in Tenever gegeben, auf dem Hausdach
Neuwieder Straße 46 – der letzte Abend eines schönen Sommers.
Dieser Abend, an dem eigentlich alles gestimmt hatte!
Auf dem Dach eines Hochhauses, nach einem Fest im obersten
Stockwerk mit allen Freunden aus früheren Zeiten, die noch ein
letztes Mal sie selbst waren, bevor der herausgezögerte, aber
endgültige Abschied von der Jugend vollzogen werden musste. Ein
Abend, an dem das Betrunkensein einfach nur schön war und
nichts vernebelte, sondern eine Zufriedenheit mit sich selbst und all
den Dingen um einen herum eintrat. Ein Tanzen war es und ein Rhythmus,
den ein Mensch im Leben nur selten findet!
Eine Zusammenkunft unter Gleichgesinnten war es dort in diesem
Hochhaus, Gleichgesinnten, die am gleichen Punkt ihres Lebens
angekommen waren – in einem satten Gefühl, voll von Leben!
In diesem Moment war Justus von dem Sofa, auf dem er saß,
aufgestanden, hatte das Fest verlassen und war durchs Fenster
aufs Dach gestiegen und hatte in die entfernt blitzende Stadt
geschaut und sich zum ersten Mal gedacht: So ist es gut! Ich will
da draußen gar nicht mitspielen, ich will das alles nicht! Ich will
nicht so werden wie die Menschen, die Momente wie diesen nicht
bemerken würden!
Ich will kein Mensch sein, der das Glück nur noch in der Ablenkung
finden kann. Für den Glück nicht Glück, sondern nur die Abwesenheit
von Ehrlichkeit bedeutet!
Doch er spürte, dass kein Mensch auf dieser Welt eine Chance
gegen die Zeit hat.
Und in diesem Moment bemerkte er, dass Emma neben ihm stand und
ebenso wie er auf die Stadt hinausschaute. Er sah, wie sich ihre
Brust hob, als sie die warme Luft einsog, und wie sie strahlte, obwohl sie
nicht lächelte. Da war irgend etwas in ihr, an ihr, um sie herum, was
nicht in Worte zu fassen war. Ein Moment, in dem eine unmessbare,
unerklärbare Strahlung von ihr ausging, die für ihn bis heute das
Bild war, an das er dachte, wenn er sich Schönheit vorstellte. Nur
dieses Gefühl, welches die beiden verband, das war wie eine Farbe –
vielleicht wie die Farbe, aus der alles gemacht ist.
So, wie wenn man alle Farben, die es je gab, zusammengießt und es
nicht braun, sondern so bunt wird, dass das Herz zu zerspringen
droht!
Justus hatte Emmas Hand genommen, obwohl das nicht seine Art
war, und sie hatten da gestanden und hatten sich nicht bewegt, so
wie die Zeit, die sie umgab.
Und dann war es zu dem einen Kuss gekommen. Ein Kuss. Mehr
nicht. Nicht die plötzliche Aufregung, der Rausch, der einem ersten
Kuss normalerweise folgt. Die Logik der Fortpflanzung trat nicht ein.
Eigentlich hätte nun die Routine einsetzen müssen, die meist einem
Kuss folgt, Handgriffe und Handlungen, wie aus Filmen erlernt.
Aber es war nicht der Moment dafür!
Ein langsamer Kuss, das langsame Annähern der Köpfe, der Augen,
die ineinander schauten. Weiche Lippen, keine Akrobatik. Nur ein
weicher Kuss, abseits von ausgetretenen Pfaden. Nur der Beweis,
dass alles gut war!
Emma und Justus lösten sich wieder voneinander, schauten wieder in die
Stadt, und der Moment war beendet. Postkoital ohne Koitus.
Ohne Schuld und Bereuen.
Und ohne die aufgesetzte Logik, dass ein Kuss ein anderes
Versprechen für die Zukunft sein muss, als sich selbst treu zu
bleiben – sich selbst treu zu bleiben und so für immer mit dem
anderen verbunden zu sein.
Beide standen schweigend in dem Nebel vor dem Schmuckladen.
„Kustus…, ich meine Justus, sind wir Freunde?“, fragt Emma.
„Ja, Emma, wir sind noch Freunde, denn Freunde, Freunde sind
wie Bäume, sie fallen tot um, wenn man wiederholt mit einer
scharfkantigen Axt auf sie einschlägt!“
„Witzig!“, sagte Emma, wenig angetan vom seltsamen Gerede von
Justus, welches sie manchmal zum Lachen brachte, welches sie
aber viel öfter verwirrend fand und ihr ein Gefühl gab, dass es
jetzt wohl besser wäre, zu gehen. Da fing man ein ganz normales
Gespräch an und Justus machte immer, dass es irgendwo anders
endete!
„Hast du verstanden, worum es da gerade bei den beiden ging?“,
fragte sie Justus, denn heute Abend war ihr danach, seltsame
Sachen zu hören.
„Ich denke, es ging darum, dass sie es nicht schafft, etwas zu
mögen, was gut für sie wäre!“, antwortete Justus.
„Das ist aber ein ganz großes Problem dieser Tage, dass die
Menschen eigentlich wissen, was gut für sie ist, aber es nicht tun,
weil jemand ihnen Angst gemacht hat. Um es einmal ganz groß zu
sagen: Es gibt kein Problem zwischen Männern und Frauen, es gibt
auch kein Problem zwischen Christen und Moslems, kein Problem
zwischen Schwarz und Weiss und Gelb und Lila und was weiß ich
nicht, was für Hautfarben es sonst noch nicht gibt. Um es also groß zu
sagen: Es gibt ein Problem im Bewußtsein!
Es geht ja überhaupt nicht mehr um Sein – es geht um Haben, und
das Beste, was man haben kann, ist Geld.
Alle reden immer von Geld, weil sie der Meinung sind, Geld wäre
wichtig, weil es Wert hat, aber in Wirklichkeit ist Geld nur wichtig, weil
es den Menschen erlaubt, Dinge zu vergleichen. Und der einzige
Vergleich, der ihnen einfällt, ist, wie arm sie sind und wie reich die
anderen sind. Aber das ist gar nicht der Unterschied. Es geht um
Glück, nicht um Geld.
Sie sagen, man kann Glück nicht kaufen, aber man kann Schokolade,
Eiscreme und Drogen kaufen – und das ist ja eigentlich das Gleiche!
Es gibt zwei Arten von Menschen: Die einen Menschen, die es
schaffen, dass Du Dinge tust, die Du nicht willst.
Und die anderen Menschen, die diesen Menschen glauben.
Das Problem sind die Lügner, und zwar nicht die Alltagslügner,
sondern die grossen Lügner, die es tatsächlich schaffen, das Du
ihnen ihre Idee von Glück glaubst.
Ein wichtiger, hinterhältiger und zum Glück gescheiterter deutscher
Verbrecher hat mal gesagt:
‚Die meisten Menschen werden leichter Opfer einer grossen Lüge
als einer kleinen!‘
Und das stimmt. Es gibt nur diese eine grosse Lüge, nämlich, dass
man Glück vergleichen könnte. Und sie benutzen Geld als Mittel,
um Dich glauben zu machen, dass das Glück im Vergleichen mit
anderen besteht.
Es ist ein Fehler im Bewusstsein. Jeder Mensch will glücklich sein,
aber keiner kann Dir sagen, was das ist, das Glück. Keiner kann
vorher sagen, was Du tun musst, um glücklich zu sein. Und anschliessend
von Glück zu erzählen, endet immer mit einem „aber“, weil Du ja nach dem
Glück nicht mehr glücklich bist.
Und der Moment des Glücks im Hier und Jetzt endet immer dann, wenn einer
denkt: ‚Jetzt bin ich glücklich!‘
Es wäre schön, ‚für den Moment‘ zu leben, wie immer alle sagen.
Aber warum hat jeder einen Fotoapparat in der Tasche, wenn nur
der Moment zählt?
Jeder, der sagt, er wüßte, was Glück ist, der müsste wissen, wie es
am Ende des Lebens ist. Sie oder Er müsste wissen, wie man es
denn macht, ein Leben zu führen, so dass man beim Sterben, wenn
man nichts mehr tun kann, glücklich ist.
Aber wie sollte das denn einer wissen? Irgendwann gehen die
Augen zu und dann geht es ja erst richtig los – da kann keiner mehr
reden, wenn es zu Ende geht. Was dann passiert, das weiß ja
keiner. Aber einen alten Menschen, der stirbt, den hat man selten
mit Angst oder Wut im Gesicht gefunden.
Was anschließend kommt, weiß keiner. Also kann man nur
Vermutungen anstellen – aber klar dürfte ja wohl sein, das niemand
stirbt und sich denkt: ‚Boyakasha, das hat sich gelohnt – ich war besser
als alle anderen!‘
Es gibt tatsächlich eine Krankenschwester, die den Weltrekord in
Sterbebegleitung hält. Knapp zehntausend Menschen hat sie
„rüber“ gebracht. Und immer hat sie gefragt: ‚Gibt es etwas, das Du
jetzt bereust?‘ Und als sie gefragt wurde: ‚Frau Schwester, sagen Sie,
was haben sich die Leute gewünscht, anders gemacht zu haben –
was waren die Dinge, welche Menschen kurz vor ihrem Tod noch
bereuten?‘, zählte die Schwester auf:
‚1.: Ich wünschte mir, ich hätte den Mut gehabt, so zu leben wie ich
es wollte, und nicht wie andere es von mir erwartet haben.
2.: Ich wünschte, ich hätte nicht soviel und nicht so hart gearbeitet.
3.: Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, zu meinen Gefühlen zu
stehen.
4.: Ich wünschte, ich wäre in Kontakt mit meinen Freunden
geblieben.
5.: Ich hätte mir gerne erlaubt, glücklich zu sein, denn Glück ist eine
Entscheidung, kein Produkt'“.
Und das ist es: Da ist nichts mit Vergleich. Vergleiche enden dort,
wo die Reise einsam wird. Und da sollten sich auch Steffi und Maik
dran halten. So wie es ist, ist es halt. Man kann tatsächlich an der
Welt nicht viel verändern. Und das einzige, was man tun kann, um
sich selbst glücklich zu machen, ist, sich zu entscheiden, glücklich
zu sein. Und Glück, Glück ist in erster Linie eins: Ansteckend!
Ein Moment des Schweigens trat ein, weil Emma jetzt nichts mehr
zu sagen hatte und es Justus wieder unangenehm war, so
gesprochen zu haben, als hätte er wirklich eine Ahnung vom Leben.
Und nach einem Moment der Stille mußten tatsächlich beide
lächeln, und es war ein bisschen wie ein zweiter Moment auf dem
Hochhaus – damals in Tenever.
„Gehört der hier zu Ihnen?“, fragte der Polizist, der plötzlich neben
ihnen stand – in der einen Hand einen selbstgebastelten Sprengsatz,
an der anderen Maik, der irgendwie verzweifelt grinste.
„Ja, gleich!“ antwortete Emma, „wir haben hier grad noch zu tun,
falls das nicht auffällt!“