Tag 7 (12.01.2012)
Maik und das Geschenk für die Frauen
Maik und das Geschenk an die Frauenwelt.
Erste Raketen verabschieden sich in den Nachthimmel und
explodieren über den Dächern der engen Strassen. Meist sehen die
Menschen die Raketen gar nicht, die sie abgeschossen haben – sie
verschwinden irgendwo hinter den Altbremer Fassaden.
Die
Beleuchtung und Beknallung der Stadt, des Viertels – das ist eine
Kollektivaufgabe der Bürger, eine Aufgabe des Bremer Kollektivbewusstseins.
Es gibt Tage, da herrscht dieses Bewußtsein – meistens wenn einer
einen Ball mit ans Eck bringt und der Ball herumgeschossen wird zur
Belustigung aller solange, bis die Polizei kommt.
Die steht dann dort: In vollkommener Kampfmontur, mit Helm und
Schützern und Pistole und Pfefferspray und allem und passt auf,
dass mit dem Ball nichts Schlimmes passiert.
Manch einer würde das Fussball nennen – und tatsächlich: Wollte der
SV Werder Bremen mal richtig Werbung machen, würden sie mal in
der Nacht mit dem Mannschaftsbus vorbeikommen und zeigen, wie
Fussball geht. Einer von den Kulturmachern sollte sich einmal einen
Weg überlegen, wie man Gelder vom Staat bekommen könnte, um
zehntausend Plastikbälle zu kaufen und einen Hubschrauber zu mieten,
um sie alle auf einmal über der Mitte der Sielwallkreuzung abzuwerfen.
Naldo nimmt den Ball an, passt zu Stefan vom „Lemans“, Stefan zu
Thorsten vom „Eisen“. Thorsten geht an Marko Marin vorbei, spielt
durch die Beine von Tim Borowski, geht vorbei an Clemens Fritz –
dann Doppelpaß mit Sebastian vom „Urlaub“. Thorsten zieht ab, Wiese
greift wohlfrisiert ins Leere – da kommt Frank Neubarth um die Ecke und
haut Sebastian um. Ulli Borowka stürmt aus der „Lightplanke“.
Mieser Tritt – Elfmeter für das Viertel!
Wynton Rufer erklärt sich bereit, legt sich den Ball zurecht, läuft an, verzögert
und lässt „Katze“ Meister Propper ins Nichts springen.
Die Stadt sagt „Nein“ zum modernen Fussball!
Aber das ist alles nur Phantasie, leider.
Es sind heute, im wahren Leben, ein paar Stunden vor dem
Jahreswechsel, erst ein paar Böller und Raketen, die in den Himmel
fliegen.
Vor dem „Coffee Corner“ sitzen Emma und Justus und Steffi und Maik.
Emma hat ihre Geschichte erzählt, sitzt noch auf dem kalten
Boden und lässt die Gefühle noch ein wenig nachwirken. Justus ist
aufgestanden und will gerade zum Kiosk gehen um, noch ein paar
Bier zu kaufen und Wodka zu klauen. Steffi wackelt komisch herum,
weil ihr kalt ist, und Maik, Maik sitzt da, schaut sich um, schließt
manchmal die Augen, hört das Knallen der Geschosse um ihn
herum und wünscht sich, ein echter Veteran zu sein, so einer, der
jetzt an Vietnam oder so etwas denken müsste, knapp vor dem
durchdrehen wäre und nun seine Geschichte erzählen könnte.
Ist er nicht. Kann er nicht. Wird er nie sein, wird er nie wissen!
Alles was er über Krieg weiß, das kommt aus DMAX-Reportagen
und „Counterstrike“ und „COD“ und „Medal of Honor“ und all den
anderen Computer-Schiessdingern.
So ist alles, was Maik denken kann, wenn er da so sitzt und auf das
Eck schaut, wie es kracht und böllert: „Kriegsgebiet geht anders!“
Das hier, das war kein Ersatz, das war kein Krisengebiet, kein Kriegsgebiet
– das meinte er doch wohl zu kennen.
Er war ja da gewesen.
Er war ja an der Front gewesen.
Er war ja im Irak gewesen.
Das war ja schon länger her gewesen, drei Monate jetzt.
Das mit der Ausmusterung damals, das war so gewesen:
Das war an dem Tag nach seiner Ausmusterung gewesen.
Sie hatten ihn ausgemustert.
Ausgemustert! Er! Ein Wahnsinn!
Unvorstellbar! Ausgemustert!
Krieg – das hatte allem immer einen Sinn gegeben. Und jetzt?
Ausgemustert?
Ungläubiger hatte er sich noch nie gefühlt.
Noch zu Hause, vor der Musterung, hatte er sich alles angezogen
und mitgenommen, was man brauchte, um einen Krieg zu
gewinnen:
Uniform, Schutzweste, Schützer, Helm, Pistole, Granatwerfer,
Flammenwerfer, Schutzstiefel, Abzeichen, Schulterklappen,
Knieschoner, Schienbeinschoner, Unterleibsschoner, doppelte
Socken, Karbonhandschuhe, Armbanduhr, GPS-System, Headset,
Unterarmcomputer, MP3-Player, Handy, Abwehrspray, Messer,
Nasenpflaster, Knöcheldolch, Knieholster, versteckte Pistole,
Flammenwerferpistole und Brille.
Als er so zur Musterung erschienen war, hatte es keine drei
Minuten gedauert, bis die Frau („Frau, das muss man sich mal
vorstellen – Frau bei der Bundeswehr! Unvorstellbar! Und geil!“, hatte
Maik sich noch gedacht), bis die Frau von der Bundeswehr gesagt
hatte:
„Hören sie mal, Sie spinnen wohl, was glauben Sie, wer Sie sind? Die
Waffen bleiben hier – Sie sind ja wohl wahnsinnig! Wir glauben und
hoffen zwar, dass Sie sich zuerst selbst statt anderer umbringen,
aber sicher kann da ja keiner sein. Und jetzt hauen Sie ab und
hören Sie auf, nach Weinbrand zu stinken. Sie fliegen mit uns
bestimmt nicht in den Krieg. Und jetzt raus, raus, raus – Idiot!“
„Sie Idiot!“, hatte sie gesagt, und das war ein Wort, welches bei Maik
einiges lostrat. Wenn einer dieses Wort sagte, das war für ihn nicht
hinnehmbar! NICHT IM GERINGSTEN!
Viel Menschen werden böse, wenn ihnen einer sagt: „Das kannst Du
nicht!“ Werden böse und machen es dann doch. Viele reden dann
etwas vom guten Gefühl, unterschätzt zu werden.
Maik kannte das Gefühl nicht, unterschätzt zu werden.
Aber wenn einer Idiot sagte – dann…!
„Ich fliege trotzdem!“, dachte sich Maik. „Ich fliege da hin, ich habe dort
eine Aufgabe und die will eingehalten werden. Pflicht ist Pflicht, Vaterlandspflicht
ist Vaterlandspflicht. Da helfen keine Pillen – und wenn das Vaterland das nicht will: Nun ja,
manchmal muss ich Menschen oder eben Ländern gegen ihren Willen helfen.
Da sind ich und der Staat uns ja einig. Ich flieg‘ jetzt los!“
Als Maik auf dem Flughafen von Bagdad ankam, standen da schon
drei Leute, und die hatten echte Uniformen an, nicht so einen selbst
zusammengeleimten Glump, wie Maik sich da übergeworfen hatte:
Mit Phantasieabzeichen und Goldknöpfen aus Überraschungseiern.
Das freute Maik natürlich, echte Uniformen zu sehen, aber das
Problem war, dass die Drei in den Uniformen gerade nach Hause zu
fliegen schienen.
Unglaublich! Feiglinge! Netzbeschmutzer! Verbrecher!
„KAMERADEN!“, schrie Maik sie an.
Die Kameraden schauten nur ungläubig den pickeligen, bleichen
und doofen Typen in seiner lahmen Uniform an.
„KAMERADEN!“, schrie Maik sie noch einmal an.
„KAMERADEN! SIE VERLASSEN SCHEINBAR UNBERECHTIGT
FEINDGEBIET. ALS DESERTEURE WERDE ICH SIE MELDEN,
UND DANN WERDEN SIE ERSCHOSSEN. ICH WÜRDE DAS
SELBST TUN, ABER TUE ES NICHT – WEGEN DER GENFER
KONVENTION!“
„Junge!“, sagte einer der Soldaten, „Junge, der Krieg ist vorbei. Da
ist keiner mehr. Was willst du denn hier. Und überhaupt: Die
Uniform: Ist die selbst genäht?“
„Ja, danke sehr!“, entgegnete ihm Maik, dem jetzt auffiel, dass von
Uniformen eine durchaus sexuelle Anziehungskraft auf ihn ausging.
„Nun ja!“, dachte sich Maik.
„WEGGETRETEN!“, schmetterte er den Soldaten entgegen und ging
auf die große gläserne Ausgangstür des öffentlichen Flughafens von Bagdad zu.
Als sich die automatische Schiebetür öffnete, erwischte eine Brise heißer
Wüstenluft ihn, und Maik sackte zusammen wie ein norddeutscher Schneeman,
den der Blitz trifft.
Ein Glück für Maik, so doof auszusehen, dass niemand etwas Böses
von ihm erwarten würde, denn so saß er acht Stunden später
wieder am Bremer Flughafen in der Besucherlounge. Die Soldaten,
welche ihn mitleidig mit nach Hause genommen hatten, schauten
ihn noch einmal traurig an und gingen mit ihren schönen
Freundinnen und Freunden nach Hause.
Kurze Zeit später ist er dann aufgestanden, der Maik, und ist durch
den Ausgang vom Bremens öffentlichem Flughafen gegangen und –
toll, wie Bremen halt so ist: Da wird keiner von warmer Luft
ohnmächtig, da wird nur jeder von nasser, kalter Luft… – na ja, nass und
kalt halt! Und so ist Maik auf sein Fahrrad gestiegen und losgefahren,
und wer schon mal mit dem Fahrrad vom Flughafen nach Tenever
gefahren ist, der weiß: Das ist wirklich weit, und das schafft nicht
jeder – und da Maik nicht jeder ist, hat er es natürlich nicht geschafft,
sondern ist in der Neustadt hängen geblieben. Aber weil es da zu langweilig
und natürlich für ihn auch viel zu studentisch war, ist er rüber ins
Viertel, hat sich eine Souterrainwohnung genommen und sein
restliches Geld für Böller und Nähzeug und Pappmaché
ausgegeben, um sich eine neue Uniform zu basteln, denn wenn
man selbst nicht zum Krieg kann, dann muss man den Krieg zu sich
holen, und wenn gerade kein richtiger Krieg zu greifen ist, dann
muss man halt so tun, als ob da einer wäre.
Das machen die Rapper ja auch so!
So saß Maik lange in seiner Kellerwohnung und besorgte sich
nach und nach Knallkörper aller Art: Böller und Raketen, Fontainen
und Silberregen, Heuler und Schwärmer.
Es waren noch einige Wochen bis zum neuen Jahr, aber Maik verbrachte
diese Zeit, indem er sich konspirativ mit Jugendlichen traf, die illegal mit
Feuerwerkskörpern handelten. Rein menschlich waren diese
„Ghettokidz“ natürlich ein wahnsinnig passender Umgang für ihn. Man
könnte sagen: Hätte Maik nicht durch seine Dummheit so ein
großes Herz – etwas anderes als ein Kleinkrimineller zu sein, wäre für
ihn überhaupt nicht möglich gewesen!
Das, was er vorhatte, würde DAS Feuerwerk werden!
Er kannte noch einige, die draußen in den Vorstätten böllertechnisch richtig
loslegen wollten: Dreifinger-Mariusz oder Stummelarm-Peter etwa.
Aber im Zentrum richtig was zu starten mit Raketen und allem, was
es brauchte, das würden sie sich nicht trauen.
Dazu war nur Maik in der Lage!
Das würde DAS Feuerwerk werden!
Die Zusammenstellung eines Sylvesterfeuerwerks ist nicht
leicht. Vieles muß bedacht werden von einem Waffennarren!
Für einen Waffennarren ist die Zusammenstellung eines
Feuerwerks nämlich eine besondere Herausforderung, verlangt das
Silvesterfest doch von einem, etwas zu tun, das aussieht wie Krieg.
Und ein Waffennarr, der findet Krieg ja schön, ästhetisch, erfüllend.
Allein durch seine innere Logik findet der Waffennarr den Krieg
erhaben schön: Wegen des Fehlens der modernen Verwirrung.
Wegen der Klarheit von Mord und der Ursprünglichkeit von
Überlebenskampf.
Soldat sein ist heute – noch mehr als früher – ein Traum für die durch
den Zeitgeist gestörten Menschen, die sich nicht trauen, sich selbst
einen Mord zu befehlen.
Da hat jeder so sein Erweckungserlebnis. Bei Maik waren das die
ersten Bilder vom Krieg im Irak in den Neunzigerjahren – diese
grünen Nachtaufnahmen, die Aufnahmen von Flugabwehrgeschützen
und Leuchtspurmunition. Dieses neongrüne Geflacker, die Aufnahmen
aus dem Hubschrauber vom Beschuß der Stadt. Das war fetzig, das hat
sich bei ihm eingebrannt, das war ein geiler Look. Geiler sah es erst
wieder am elften September aus!
Es gibt diesen Satz: „Krieg ist Scheisse, aber der Sound ist geil!“
Maik würde da wohl eher sagen: „Was soll an Krieg denn Scheisse sein –
sieht gut aus, klingt ganz hervorragend, Leute verdienen eine Menge Geld damit und es
sterben immer die Schwächsten zuerst. Wie kann jemand, der an Darwin glaubt,
irgend etwas dagegen haben, dass die Schwächsten zuerst sterben
(Christen hassen und dann Geld für Behinderte statt für Krieg ausgeben!)?“
Genau mit diesen schönen und grünen Bildern vor Augen hat Maik
sich auf die Silvesternacht vorbereitet. Genau so. Das ist der Look,
den sein Feuerwerk haben soll!
Er hat sich diese Uniform gebastelt, die es ihm erlaubt, sich vor den
Häusern im Viertel zu tarnen. Um mit seinem Knallzeug von dem
Kellerverschlag, in dem er haust, bis zum Eck zu kommen, um dort
seinen optischen Angriffskrieg zu beginnen.
Als er am Körnerwall vorbeischleicht, sieht er Emma, die er noch
von früher aus Tenever kennt. Sie läuft da mit einem Notizbuch
unter dem Arm entlang. Er tarnt sich weiter an den Häusern
entlang, schleicht sich an Emma vorbei, wie sie an der Ampel vorm
„Taco“ steht. Und auf der anderen Seite, da sieht er diesen Justus
sitzen – auch den kennt er noch von früher.
Und daneben, da steht sie, wackelt ein bisschen hin und her und
sieht so aus, als ob ihr kalt wäre. Da steht Steffi – unschlagbar, diese
Frau! Einmal hat Maik sie geküsst. Früher mal, mehr durch eine
Verwechslung – aber diese Frau hat ihn nie wieder losgelassen,
obwohl das alles Jahre um Jahre her ist.
Näher ist er nie einer Frau gekommen.
Und dass Maik alleine ist, das muss ja wohl keinem gesagt werden.
Es gibt ja diese Voraussetzungen, die einer braucht, um keinerlei
Kontakt zu bevorzugten Geschlechtspartnern zu haben, um
keinerlei Kontakt zum anderen Geschlecht haben zu können:
Ein Computer oder schlechte Gesichtshaut oder Dicksein, eine
doofe Lache oder immer schlechte Laune, schlechter Geschmack
von sich selbst oder den Eltern, Freunde, die viel, viel toller sind als
man selbst und die dem Gegenüber keine Chance lassen, einen zu
mögen. Oder einen schlechten sexuellen Geschmack oder eine
Vorliebe für abwegige sexuelle Praktiken, obwohl man den
normalen Geschlechtsverkehr noch nicht mal drauf hat – oder aber
auch einfach schlechten Geschmack, was Menschen angeht.
Ja, es gibt ihn, den schlechten Geschmack, was Menschen
angeht!
Richtig ist: Es gibt kaum schlechte Menschen, aber es gibt
schlechten Geschmack, was das Mögen von Menschen angeht.
Ja ja, das ist ein grosses Problem, das geht ganz vielen so, vor allen
denen, die mal mit Pornografie angefangen haben. Die haben die
Bilder schon im Kopf und mögen dann diese total bescheuerten
Figuren aus den Filmen und glauben tatsächlich, die wären echt. Das
ist ganz toll: Je billiger ein Porno produziert ist und je billiger er
somit aussieht, um so mehr glauben die Leute den ganzen Schrott
und suchen im wahren Leben einen Menschen, der so ist wie in den
Pornofilmen propagiert!
Da sagt ein lieber Mensch, der seine warme Seele bewahrt hat:
„Komm‘, laß‘ uns lieben, wir sie es in den Filmen tun!“ Aber da denkt
der eine: „Aha! – wie in den Filmen: Kaminfeuer, ein Fläschchen Wein, das
Erkunden des weichen, warmen Körpers einer geliebten Person, das
Gefühl von Schönheit im Menschsein, die Verschmelzung des
Universums in einem Akt der endlosen Liebe zur Menschheit an
sich, der gemeinsame Rhythmus des Lebens bis zur Sternenexplosion.
‚Auf zu Supernovae der Herzen, meine Bella, mein Edward!‘
Weichzeichner und dann Kameraschwenk zu den sich in
der lauen Sommerbrise blähenden Seidenvorhängen“.
Und der andere denkt sich: „Ah, wie in den Filmen Liebe machen:
Mund, dann normal, dann von hinten und dann in die Augen!“
Ganz schwierig ist das, ein pornografiertes Gehirn wieder in einen
normal menschlichen Zustand zu bringen. Eigentlich ist liebende
Sexualität dann nur noch durch Gesprächstherapie zu erlangen
oder dadurch, nur noch dann Sex zu haben, wenn man viel zu müde
für den ganzen eingebläuten Sexistenquatsch ist.
Das sind alles große Probleme, die groß auf Maik zutreffen, echte
Probleme!
Früher, da haben die Menschen ja meist ein Leben lang nur die
Menschen aus ihrem Dorf gesehen. Da war das mit der Auswahl
noch nicht so, da hat nicht jeden Tag irgendein Perfekto von
irgendeinem Hochhaus gegrinst und sekundäre Geschlechtsmerkmale
präsentiert, um überzeugend Autos oder Parfüms zu verkaufen.
Das ist ja noch gar nicht so lange so, dass Menschen überhaupt
schöne Menschen sehen können – das ist ja nur so, weil alle immer
Fernsehen und Internet gucken und in der Lage sind, sich zu
entscheiden, für welchen Quatsch sie ihr Geld hinblättern wollen.
Das war ja früher ganz normal, sein Leben lang das Dorf nicht zu
verlassen. Und wer dann mal auf einer Reise einen wirklich schönen
Menschen gesehen hat, der hat das ja nie wieder vergessen, wie
toll so etwas Schönes anzusehen war, wie anregend, das Glück zu
haben, wirklich mal jemand Schönes zu sehen.
Schön ist, sich heute vor ein Parfümgeschäft zu stellen und in das
Schaufenster zu schauen, wo sie überlebensgroß abgebildet sind,
diese wunderschönen Menschen.
Man kann sie sich anschauen und – halbtransparent – in der Spiegelung
der Scheibe die Fotos der Werbungsmenschen und die Gestalten der Bürger,
die davor entlang gehen, vergleichen. Da wird es – trotz Großstadt –
kaum ästhetische Überschneidungen geben.
Tatsächlich – und das wird ja auch bemängelt – sagen heute einem
Funk und Fernsehen, wie es am Besten ist, auszusehen.
So oder so auszusehen, um Erfolg oder Geld oder Macht zu haben.
Das ist differenziert – da wird sich je nach dem verfolgten Ziel
gekleidet. Und auch wenn Geld, Erfolg und Macht zusammenhängen,
ist es doch eine Absprache unter den Menschen, Fähigkeiten und Intelligenz
statt kurzer Röcke und dicker Arme zu benutzen.
Sonst wäre dieses Land regiert von Minirock und Bodybuilder.
Aber noch ist hier nicht California!
Da aber diese Ziele – Erfolg und Geld und Macht – dem grossen Ziel
Fortpflanzung und Sex unterstehen, ist das Aussehen von
Pornodarstellern undifferenziert und eindeutig und hat einen klaren
Look, um ohne Vorspiel – nur getrimmt zur schnellmöglichsten
Fortpflanzung – und möglichst schnell möglichst viele Sinne zu
stimmulieren. Was für eine mächtige Technik des Aussehens und
des Auftretens!
Das ist schon eine harte Nummer: Innerhalb von einhundertfünfzig
Jahren Menschheitsgeschichte wandelt sich die Menschheit von
der Erfahrung, nie einen überschönen Menschen gesehen zu
haben, zu dem Gefühl, immer und jederzeit von jedem Ort, zu jeder
Zeit ihres Lebens Fortpflanzung mit den überragensten
Sexmenschen mit den besten Sexmerkmalen aller Zeiten
haben zu können.
Das Leben wird nicht leichter für die kleinen Menschen!
Tatsächlich, das ist der Moment.
Da steht Maik und weiß nicht so genau, was er denn jetzt tun soll.
Er ist immer noch getarnt, obwohl ihn gerade ein Bierverkäufer
angeschrieen hat: „Einzfüffzig, das Bier!“
Da hat Steffi kurz vom „Coffee Corner“ herübergeschaut, aber, ob
sie ihn gesehen hat, da ist er sich nicht sicher – und was soll er denn tun?
„Ich muss da jetzt rüber!“, denkt er sich.
„Was soll mir passieren, ich habe die besten Böller von Bremen, nichts kann
schiefgehen. Steffi – sie muss mich mögen, wenn sie Männer mag!“
In diesem Moment geht Emma an ihm vorbei, und er schleicht mit
ihr über die Straße, bis sie bei den beiden anderen zum Stehen
kommen.
„Hey!“, sagt er leise zu Steffi.
„Hey!“, sagt sie zu ihm.
„Hey!“, sagt Justus
„Hallo!“, sagt Emma.
Maik schaut Steffi an, und das ist jetzt wirklich nicht leicht für ihn.
Wirklich nicht leicht!
Am Anfang ist da immer noch ein Funken von Mut, wenn er mit
Mädchen sprechen will, aber nein: Wenn er es schafft, sich auch nur
den Funken einer Vorstellung zu machen, was schief gehen könnte,
dann war es das!
Dass da nichts gehen würde, das war Maik ganz schnell klar.
Tatsächlich ging es darum, dass Männer ihn mochten, denn klar war
ja: Frauen stehen auf Männer, auf die Männer stehen. Frauen
mögen Männer, zu denen Männer aufsehen. Vielleicht ist das der
Grund für die Liebe zu homosexuellen Männern, denn heimlich
ist ein jeder Mann neidisch auf den Mut schwuler Männer, sich
verletzlich zu machen. Denn was ist stärker als jemand, der in
seiner Art nicht immer so doof stark sein muß? Und als weicher
heterosexueller Mann – da sind die Achtziger und Neunziger leider
vorbei! Im normalen Mannsein geht es heute wieder um Härte – das hat
wer auch immer, wieder hart versaut. Da waren wir mal auf einem
guten Weg, aber das ist vorbei. Härte und Unangreifbarkeit,
Gefühlskälte und Stärke – das ist es wieder!
Maik hat alle diese Bücher gelesen von den professionellen
Aufreissern, die sie alle immer mit nach Hause nehmen.
Eigentlich ein geniales Ding: Bücher, die das Zwischenmenschliche als
als wissenschaftliche Disziplin beschreiben. Als eine Art von Spiel,
wie Spiele auf dem Computer heutzutage sind. Also Spielen, nicht
weil das Spielen Spaß macht, sondern weil besser sein und
Gewinnen Spass macht.
Das Ansprechen von Frauen in Bars oder Alltagssituationen,
aufgeschlüsselt in die Sprache von Echtzeitstrategiespielen.
Klare Regeln. Etwas zum Festhalten.
Es geht nicht darum, sich selbst besser zu machen als man ist. Es
geht darum, die angesprochene Frau auf sein Niveau herabzuziehen.
Es geht nicht darum, sich selbst gut zu finden. Es geht darum, das
Gegenüber dazu zu bringen, sich selbst auch nicht so gut zu finden.
Und so ist der einzige Tipp, den diese Menschen den anderen geben,
wie sie die falsche Liebe finden können: „BELEIDIGEN. Du musst die,
die Du haben willst, beleidigen! Je härter, je verletzender, umso besser!
Den Schwachpunkt suchen, um dann hineinzustechen. Und dann zu sagen:
„Hey, hab‘ ich nicht so gemeint!“
Das ist ein bißchen so wie bei einem Straßenkampf: Das Hemd zu heben
und seine Pistole zu zeigen!
Maik schaut Steffi an und plötzlich macht sein Mund Folgendes:
„Na, was denn mit Dir los – haste Angst bekommen, dass Du so eine
ganz normale Schlampe hinten in Tenever wirst, wa? Haste Angst, dass
jeder weiß, mit wievielen Du schon im Bett warst? Nee, Du bist echt
peinlich – ausserdem bist Du mega klein und voll ekelig: Du stinkst
und keiner kann Dich leiden!“
Mit weit aufgerissenen Augen schaut Steffi Maik an.
Man sieht förmlich den Dampf in Steffis tatsächlich sehr kleinen Kopf
steigen.
„Sag‘ mal, Du blödes Arschloch, was glaubst Du denn eigentlich, wer
Du bist? Der Idiot aus Tenever, der Schwachkopf aus Bremen-Ost!
Was fällt Dir ein, so mit mir zu reden – guck‘ Dich mal an, Du Vollidiot,
was willst Du denn von mir? Du hast sie doch nicht mal alle! Was ist
das für ein Müll, den Du Dir da angezogen hast? Du glaubst, Tenever
würde nicht den ganzen Tag über Dich lachen? Komm‘ doch mal
wieder vorbei. Ganz Bremen lacht über Dich – alle! Und ich am
allermeisten! Noch nie gefickt und so eine grosse Fresse! Du glaubst,
Du kannst mir was, Du glaubst, ich wäre das kleine Blondchen, mit
dem jeder machen kann, was er will? Guck‘ Dich mal an: Das glaubst
Du doch selbst nicht, dass irgend jemand Dich auch nur mit dem
Arsch angucken würde! Von allen Idioten dieser Stadt bist Du
wirklich der König! Und weißt Du was: Am Tag, an dem die Welt
untergeht, würde ich Dich nicht küssen, Maik!
Nicht mal am Tag, an dem die Welt untergeht!“